Wolf J. Reuter, Berlin vs. Bundesministerium für Arbeit und Soziales

SOKA-Bau: Überprüfbarkeit der Allgemeinverbindlicherklärung – Berliner Rechtsanwalt erzielt gerichtliche Grundsatzentscheidung

Herr Wolf J. Reuter ist Rechtsanwalt in Berlin und im Rahmen seiner besonderen Qualifikation als Fachanwalt für Arbeitsrecht seit vielen Jahren auch mit Fällen betraut, die das Verhalten der SOKA-Bau und die oft gravierenden wirtschaftlichen Folgen für sozialkassenpflichtige Unternehmen betreffen.

Eines der vielfach kritisierten Problemfelder ist die seit vielen Jahren vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erklärte Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV). Auf Grundlage des VTV erhebt die SOKA-Bau die Sozialkassenbeiträge. Durch diese Allgemeinverbindlicherklärung erlangt der Tarifvertrag, bzw. die darin enthaltenen Regelungen eine Verbindlichkeit, die vergleichbar mit einem Gesetz für alle Rechtsunterworfenen gilt. 

Info: Der Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) regelt insbesondere, dass Arbeitgeber in der Bauwirtschaft knapp ein Fünftel des Bruttolohns eines jeden Beschäftigten an die SOKA-Bau abführen muss – zusätzlich zu den anderen Lohnnebenkosten (Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung). Die Beiträge (Beitragssatz Ost 16,6 %, West 19,8 %) setzen sich zusammen aus Anteilen zur Sicherung von Urlaubsansprüchen (14,3%),  zur Zusatzrente (3,2%) und zur Berufsbildung (2,3%).

Der VTV wird zwischen dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e.V. (ZDB), dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e.V. (HDB) und der Industriegewerkschaft Bauen – Agrar- Umwelt (IG Bauen-Agrar-Umwelt) geschlossen. Damit gilt dieser Tarifvertrag, bzw. seine enthaltenen Regelungen für Arbeitgeber, die den Vertragsparteien als Mitglieder angehören und deren Arbeitnehmer. 

Ausweitung der Tarifbindung

Seit vielen Jahren beantragen jedoch die Tarifvertragsparteien jedes Jahr beim BMAS erfolgreich, den VTV (sowie den Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe – BRTV) nach    § 5 Tarifvertragsgesetz (TVG) für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Die vom BMAS ausgesprochene Allgemeinverbindlicherklärung führt dazu, dass die Regelungen des Tarifvertrages und damit die Sozialkassenpflicht auch für Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelten, die selbst keine Mitglieder der Tarifvertragsparteien sind.


Info: Auswirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) in der Praxis:

Viele der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber, sind sich nicht darüber bewusst, dass für sie aufgrund der Allgemeinverbindlicherklärung die Regelungen des Tarifvertrages und damit auch die Sozialkassenpflicht gelten.
Dies liegt auch an der Definition des Begriffes „bauliche Leistungen“ im Tarifvertrag. Dort werden in Abschnitt V insgesamt 42 Tätigkeiten aufgezählt, die – sofern ein Betrieb diese „überwiegend“ erbringt – dazu führen, dass für diesen Arbeitgeber die Tarifbindung entsteht.
Für einen Arbeitgeber, der durch die Wirkung der Allgemeinverbindlicherkärung an die Regelungen des VTV gebunden wird, ist es insofern nicht ohne weiteres zu erkennen, ob er mit seinen Leistungen, die er am Markt anbietet unter den Tarifvertrag fällt und somit sozialkassenpflichtig ist.
Führt eine Tischlerei zum Beispiel überwiegend Fenstermontagen aus, fällt der Betrieb in den Geltungsbereich des Tarifvertrages. Auch wenn der Arbeitgeber nicht Mitglied der Tarifvertragsparteien ist, kann der Tarifvertrag für ihn gelten, da er vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales auch für die sog. „tariflichen Außenseiter“ für allgemeinverbindlich erklärt wurde.

Wenn sich dann die SOKA-Bau meldet und einen aufgrund bestehender Beitragspflicht offenen Forderungsbetrag mitteilt, ist der Überraschungseffekt groß – nicht zuletzt da die Beitragsforderungen für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren rückwirkend geltend gemacht werden können. Dass die Forderungssummen der SOKA Bau von den bis dahin ahnungslosen Unternehmen problemlos gezahlt werden können, stellt eher die Ausnahme dar. Oftmals ist die Rede von fünf- bis sechsstelligen Beträgen, die rückwirkend zu zahlen sind:  Das dies für manche Unternehmen im wirtschaftlichen Ruin endet, stellt leider keinen Einzelfall dar.

Info: Erstattung von gezahlten Beiträgen:

Auch wenn dem Arbeitgeber hinsichtlich der gezahlten Beiträge zur Urlaubs- und Lohnausgleichskasse (ULAK) ein Erstattungsanspruch zusteht (nämlich wenn der Arbeitnehmer Urlaub genommen oder er ihm den Urlaub ausgezahlt hat), ist die Erstattung von Seiten der SOKA-Bau bis zum 30.06.2013 an die Voraussetzung geknüpft, dass das Beitragskonto des Arbeitgebers keinen Rückstand aufweist.  Im Klartext bedeutet dies, dass dem Arbeitgeber, der von der SOKA-Bau rückwirkend zur Zahlung herangezogen wird, sein grundsätzlicher Erstattungsanspruch ersteinmal nichts nützt, da er zuerst die komplette Forderung (inkl. ULAK-Beiträge) begleichen muss, um im Anschluss sodann die Erstattung der ULAK-Beiträge beantragen zu können.

Zum 01.07.2013 ist der Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) dahingehend geändert worden, dass eine Saldierung zwischen Beitragsforderungen und Erstattungsguthaben möglich sein soll. Diese Regelung könnte eine deutliche Wende in der bisher bestehenden Praxis der SOKA-Bau darstellen, insbesondere, da sie auch rückwirkend, d.h. für Beitragsforderungen und Guthaben, die vor dem 01.07.2013 entstanden sind, gilt.

Zwar wird die Allgemeinverbindlicherklärung durch das BMAS regelmäßig online im Bundesanzeiger und im Tarifregister veröffentlicht und ist damit theoretisch für jedermann zugänglich.

In der Praxis stellt sich jedoch die Frage, wie viele kleine und mittelständische Handwerksbetriebe, die keiner der Tarifvertragsparteien angehören, darauf kommen, sich im ersten Schritt über das Tarifregister oder den Bundesanzeiger zu informieren, ob ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde und dann im zweiten Schritt den betreffenden Tarifvertrag zu lesen und das eigene Unternehmen als Baubetrieb im Sinne des Tarifvertrages einzuordnen.

Auskunftsantrag wegen Zweifel an Rechtmäßigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung

Zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 5 TVG müssen die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheinen.
Das Vorliegen des Quorums ist eine zwingende, gesetzliche Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung. Die entsprechenden Zahlen werden jedoch vom BMAS nicht veröffentlicht, sondern vielmehr unter Verschluss gehalten. Insofern war es bisher nicht möglich, dass sich ein ahnungsloser Arbeitgeber, der von der SOKA-Bau auf Grundlage des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages überraschend in die Zahlungspflicht genommen wurde, auf eine mögliche Unwirksamkeit der Erklärung mangels Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen berufen konnte.

Herr Reuter (und auch weitere Praktiker) bezweifelten jedoch, dass tatsächlich mindestens die Hälfte aller unter den Tarifvertrag fallenden Arbeitnehmer von tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt werden und damit das Vorliegen der Voraussetzungen für eine rechtmäßige Allgemeinverbindlicherklärung.
Da sich Herr Reuter nach eigenen Angaben nicht damit abfinden konnte, dass die Zahlen nicht zugänglich seien und damit die Rechtmäßigkeit einer Erklärung mit derart weitreichenden Folgen nicht überprüfbar sein sollte, stellte er persönlich (und nicht in Vertretung eines Mandaten) am 22.06.2010 beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Auskunftsantrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG).
In diesem bat er „um Auskunft, von welchen Zahlen Ihrerseits bezüglich der bei den tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer und bezüglich der unter den Geltungsbereich des allgemein verbindlichen Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer ausgegangen wurde und mithilfe welcher Quellen und Verfahren diese Zahlen ermittelt wurden.“  Das Bundesministerium lehnte den Antrag am 10.09.2010 ab und führte als Begründung an, dass das Bekanntwerden der begehrten Informationen negative Auswirkungen auf ein anhängiges verwaltungsgerichtliches Verfahren haben könnte.

Nachdem Herr Reuter gegen diese Ablehnung unter Berufung auf sein ihm gemäß § 1 IFG zustehenden Auskunftsanspruch Widerspruch einlegte, wurde auch dieser durch Widerspruchsbescheid zurückgewiesen. In diesem Bescheid vertrat das BMAS die Auffassung, dass das IFG in diesem Fall nicht anwendbar sei und Herrn Reuter kein Anspruch auf Auskunft zustünde. 

BMAS beruft sich vor Gericht auf Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen

Aufgrund der Erfolglosigkeit des Vorverfahrens erhob Herr Reuter selbst sodann am 26.05.2011 Klage zum Verwaltungsgericht Berlin.
Im gerichtlichen Verfahren teilte das BMAS dem Kläger die Quelle mit, die der Ermittlung des Quorums zugrunde lag. Hierbei handelte es sich um ein Schreiben der IG Bauen-Agrar-Umwelt und um ein Schreiben des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie e.V. (HDB) mit Meldebögen, nebst Prüfvermerk des BMAS.
Die Inhalte der Quellen weigerte sich das BMAS jedoch weiterhin preiszugeben und berief sich nun auf den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nach § 6 IFG. Die Anzahl der tarifgebundenen Mitglieder und der dort beschäftigten Arbeitnehmer seien für die Tarifvertragspartner HDB und ZDB jeweils von großer Bedeutung, da sie die Durchsetzungskraft von Arbeitgebervereinigungen beträfen und diesen nach Artikel 9 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz ein entsprechender Schutz zukäme. 

Verwaltungsgericht gibt Auskunftsanspruch statt und fällt damit Grundsatzurteil

In seinem Urteil vom 23.05.2012 (Az.: VG 2 K 96.11) sah das Verwaltungsgericht Berlin den Auskunftsanspruch von Herrn Reuter jedoch als begründet an und stellte in der Urteilsbegründung fest, dass gerade im Bereich der Allgemeinverbindlicherklärungen ein Bedürfnis auf Informationszugang besteht, „da diese Form der Rechtssetzung nicht wie die parlamentarische Gesetzgebung transparent durch Veröffentlichung des Gesetzesentwurfs in einer Drucksache und öffentlichen Lesungen sowie Repräsentanz der Bevölkerung durch die gewählten Abgeordneten erfolgt.“

In seiner Kostenentscheidung entschied das Gericht, dass die Kosten des Verfahrens vollumfänglich die Beklagte, die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das BMAS, zu tragen habe.

Durch das Urteil wurde das BMAS verpflichtet, Herrn Reuter die Quellen zur Verfügung zu Stellen aus denen das Quorum als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV ermittelt wurde. Neben den im Klageverfahren vom BMAS benannten Schreiben zählte hierzu auch die jährliche Erhebung zur Zahl der unter den Geltungsbereich der Tarifverträge im Baugewerbe fallenden Beschäftigten des Statistischen Bundesamtes, sowie die jährliche Statistik der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes.

Wie uns Herr Reuter mitteilte, hat er – nachdem das Urteil rechtskräftig geworden ist – seinem titulierten Auskunftsanspruch entsprechend vom BMAS die Unterlagen angefordert und auch erhalten.  Nach seiner fachkundigen Einschätzung bieten die auf insgesamt vier DinA4-Seiten aufgeführten Informationen jedoch keine ausreichende Grundlage für die Voraussetzungen des § 5 TVG. Demzufolge lautet das Resumée von Herrn Reuter auf seiner Homepage: „(…). Wir sind nach den uns vorliegenden umfangreichen Quellen davon überzeugt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung 2008 und die Allgemeinverbindlicherklärung 2010 für die Sozialkassentarifverträge hinsichtlich des Quorums rechtswidrig sind.“

„Mehr Transparenz und Rechtsstaatlichkeit“

Gerade in Fällen, in denen die Verwaltung handelt und die Folgen so weitreichend und zum Teil einschneidend sind, muss in einem Rechtsstaat eine Überprüfbarkeit der gesetzlichen Voraussetzungen möglich sein und gewährt werden.

Mit seinem Fall hat Herr Reuter auf einen bestehenden Missstand in der Verwaltung hingewiesen und mit seinem erzielten Urteil ein wertvollen Beitrag geleistet, den Problemkomplex SOKA-Bau weiter zu beleuchten.

 

Stand der Falldarstellung: 06/2013

 

Update 11/2014:

Mit dem am 16. August 2014 in Kraft getretenen „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ wurde dem Fall von Herrn Reuter nun die Grundlage entzogen. Die Große Koalition hat mit dem Gesetz die Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags radikal gesenkt und die 50% – Regelung abgeschafft.

Nach dem neuen § 5 Abs. 1 kann das BMAS nun einen Tarifvertrag auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, allein „wenn (dies) im öffentlichen Interesse geboten erscheint“. Das soll in der Regel der Fall sein, wenn

„1. der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat oder

2. die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt.“

Der neu eingefügte § 5 Abs. 1a Nr. 1 ermöglicht eine Allgemeinverbindlicherklärung insbesondere  wenn der Tarifvertrag die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen durch eine gemeinsame Einrichtung die den Erholungsurlaub, ein Urlaubsgeld oder ein zusätzliches Urlaubsgeld regelt.

Nach dem neu eingefügten § 5 Abs. 4 Satz 2 ist ein nach Absatz 1a für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag vom Arbeitgeber sogar auch dann einzuhalten, wenn er an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist.

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